Der Ruf des Vorfahren
Firdaus Schukurov
Er ist 2000 Jahre alt!
Hier, in der engen Felsspalte, ist die Zeit stehengeblieben.
Er heißt Hodscha Ishok.
Seit vielen Jahrhunderten wird er von wagemutigen Pilgern besucht, die dabei riskieren für immer in dem Felschaos zu bleiben, das diese unzugängliche Grotte schützt
***
Der Iskanderkul (Alexandersee) begrüßte uns mit dem regelmäßigen Plätschern seiner Wellen. Tausende von Sternen, von einem Reigen von Bergen umgeben, blinkten mit ihren Sternbildern zu uns herunter. Das silberne Licht des aufgehenden Mondes begann plötzlich alles zu verwandeln. Die strengen Bergriesen mit ihren weißen Häuptern neigten sich zu der belebenden Nässe in der riesigen Schale. Die Kuppe des Berges Doschdemer schwankte auf dem Wasserspiegel in der Umarmung des drohenden Kyrkschaitan (Berg der vierzig Teufel). Und in dem Moment, als sich die Spiegelungen der Berge berührten, wehte ein Windstoß etwas Unaussprechliches, kaum Merkliches herüber, etwas wie ein Stöhnen der steinernen Bergriesen oder das beunruhigte Schlagen ihrer Herzen aus Eis, die von einer grausamen fernen Vergangenheit zu berichten wissen.
***
Der große Eroberer Alexander der Große (Alexander mit den zwei Hörnern), dessen Name allein zittern machte, betrat das Land der Sogdier.
Nachdem tausende seiner Krieger auf den Schlachtfeldern geblieben waren, brach er in die Hauptstadt ein und begann seine Bewohner grausam auszurotten. Diese aber wollten sich nicht ergeben. Der wagemutige Krieger Spitamen beschloss die zersplitterten Kräfte der Sogdier zu vereinigen und jählings über den Feind herzufallen. Und doch wollte das Schicksal nicht, das dies eintreten sollte, denn die abscheuliche Zunge eines Verräters hinterbrachte Alexander die Vorbereitungen Spitamens auf den Überfall. Von den Eindringlingen verfolgt, zog sich das Heer Spitamens an den Oberlauf des Sarafschan zurück um in der engen Bergschlucht Fan Darjo einen Hinterhalt zu legen.
Die drohende Schlucht mit seinem donnernden Strom in der schwarzen Tiefe wurde für die Eroberer zu einem unüberwindlichen Hindernis. Die schwindelerregende Schlucht kühlte den Wagemut der feindlichen Heerscharen ab. Da beschloss Alexander die Aufständischen von hinten anzugreifen. Einen Teil seiner Truppen führte er über Woru zu den Wäldern von Artschamaidan. Die Eindringlinge überwanden den Eissattel des Dukdona und stiegen in die Schlucht des Karakul hinab.
Bei dem Dorf Hairambed gerieten die Sogdier in einen Hinterhalt des hinterlistigen Eroberers, der beschlossen hatte den Aufständischen an dieser Stelle ein Ende zu bereiten. Die Eindringlinge führten Erdrutsche herbei und versperrten so dem Fluss den Weg. Als der Wasserdruck stärker wurde als die aufgeschüttete Erde, stürzte ein brausender Strom zu Tal, der alles, Felsen und Wacholdergesträuch, mit sich riss. Innerhalb weniger Minuten wurde das Heer Spitamens von den Wassermassen begraben und fortgerissen.
Bei dem Dorf Makschewat wurde Spitamen ans Ufer geschleudert. Um sich zu retten, kletterte er immer höher und höher in die Berge hinauf. An Felsabgründen vorbei, an schmalen Vorsprüngen und hängenden Felsen entlang, gelangte er schließlich zu der Höhle. Das eisige Halbdunkel umfing den kraftlosen Krieger. In diesem Moment wurde sein nach Freiheit dürstendes Herz von einem feindlichen Pfeil durchbohrt. Langsam auf den kalten Granit sinkend, wandte Spitamen seinen Willen und seine Gedanken auf die geheimen Kräften der Natur, die er beschwor die Eroberer zu strafen und die heimatliche Erde, das schöne Sogdiana, zu befreien.
***
In den Mondnächten kann man über dem See und den dunklen fernen Schluchten einen geheimnisvollen, wie vom Wind getragenen Ruf erhören, der die verzauberten Wanderer zu sich lockt.
Zwanzig Jahrhunderte sind für Ihn wie ein Augenblick. So will es die Natur. Der Iskanderkul, der den Namen Alexanders - Alexanders des Großen - trägt, ist bis auf den heutigen Tag nur zur Hälfte gefüllt. An den Hängen der umliegenden Berge kann ein aufmerksamer Blick auch heute noch die Linien des ehemaligen Wasserstandes bemerken, die von den grausamen Ereignissen jener längst vergangenen Tage erzählen.
***
Wir wanderten mehrere Tage in den Fanbergen umher. Uns zog bereits seit langem eine der Sehenswürdigkeiten der Fanberge an, die Grotte von Makschewat mit ihrem uralten Bewohner. Dieses Mal beschlossen wir die Höhle zu finden und unseren Vorfahren näher kennenzulernen, den die Muslime für heilig erklärt haben.
„Und wir haben für Abraham
Platz für ein Haus gefunden,
um unter den Menschen die Kunde
von der Pilgerfahrt zu verbreiten:
sie kommen zu Fuß zu Dir
aus einer tiefen Felsspalte...“
Koran, „Hadsch“, Suren 27, 28
Früh am Morgen machten wir uns auf den Weg; der über Nacht gefrorene Pfad war staubig und kroch in Serpentinen von der grünlichen Seeoberfläche empor und schnitt sich in den Himmel. Von der großartigen Schönheit der sich wie zu Säulen auftürmenden Felsen auf der anderen Seite des Flusses umgeben, bewegten wir uns zügig zum Scheitelpunkt.
Mirov ging voraus. Ich ging hinter ihm her und dachte dabei an den Hodscha Ishok und daran, ob es uns wohl gelingen würde, bis zu ihm vorzudringen. Wo sich die Grotte genau befand, wussten wir nicht. Auch war nicht klar, wie die örtlichen Bewohner unser Kommen aufnehmen würden. Aber die Zuversicht und Entschlossenheit Mirovs spornte mich an.
„Was meinst du, wird es uns gelingen, bis zur Höhle vorzudringen?“
„Wenn er ein echter Heiliger ist, wird er uns selbst helfen“, antwortete Mirov ohne Zögern. Die Abhänge schienen gar nicht aufhören zu wollen, der erste löste den zweiten, dieser den dritten ab. Alles war ausgetrocknet und verschmolz zu einer einzigen wellenförmigen runzeligen Oberfläche. Die uns umgebende Natur hatte nichts verlockendes und hinterließ vielmehr einen eher bedrückenden Eindruck. Nur das großartige Panorama der Gipfel in der blauen Ferne verschönerte die Eintönigkeit und Schwermut der rotbraunen Felsen. Die Sonne stieg immer höher und begann gnadenlos zu brennen. Der Durst wurde immer größer, aber das Wasser floss tief unten und toste mit weißem Schaum über die Felsen.
„Sollte unser mächtiger Vorfahre uns wirklich nicht helfen wollen?“, dachte ich. Aber als ich den nächsten Rücken erstiegen hatte, war ich angenehm überrascht. Zu unseren Füßen lag in einer kleinen Vertiefung ein Garten mit grünen offenen Stellen. Es gab also Wasser!
Der Pfad folgte dem durchsichtigen Band eines Bächleins und führte an einem Aprikosenbaum vorbei, der wie mit orangenen Glasperlen geschmückt war.
Indem wir dem Pfad weiter folgten, erreichten wir schließlich die Stelle, von der aus sich das Dorf Makschewat, das zwischen dem smaradenen Grün der Weiden und Pappeln am Grunde der Schlucht lag, unserem Blick öffnete. Der Hang, geschmückt mit dem Grün von Gärten und Tabakpflanzungen, lag bereits im Schatten. Hier war es kühl und keine Schwüle war zu merken.
Wir stiegen zu dem Dorf hinab und Mirov fragte den ersten uns entgegenkommenden älteren Mann nach seinem Onkel. Der Mann rief einen Jungen herbei und befahl diesem uns zu führen. Der Junge führte uns durch schiefe enge, bereits im Schatten liegende Gässchen, die von kleinen Bächlein durchschnitten wurden, die von den höher zu den tiefergelegenen Höfen flossen und sich schließlich in den reißenden Strom ergossen.
Wir kamen zu einem Lehmhaus mit flachem Dach. Ein Teil des Hofes war mit einer Mauer aus rostfarbenen Steinen und Lehm umgeben, der andere grenzte an die angrenzenden Höfe und an einen kleinen Schuppen, der aus Zweigen von Büschen geflochten war. Ohne lange zu überlegen, betraten wir den Hof, wo wir einige Frauen bemerkten. Sie verschwanden fast in den Tabakblättern, die sie auf lange Schnüre fädelten. Das Grün der aufgehängten Girlanden schmückte die Veranda. Als die Frauen uns sahen, lächelten sie, unschlüssig, wer diese Unbekannten mit den Rucksäcken wohl sein könnten. Vielleicht Geologen?
Die Bergbewohner halten jeden mit Rucksack, um so mehr, wenn er noch einen Bart hat, für einen Geologen. Den Tourismus heißen sie in den Tiefen ihrer Herzen nicht gut und sind sehr erstaunt darüber, wie diese Menschen Hunger, Hitze und Kälte auf sich nehmen und eine solche Reise in die Berge auch noch als Erholung bezeichnen. Wenn sie dann noch erfahren, dass der gewöhnliche Tourist dafür, dass er in diesen Himmelhöhen unter der Last seines Rucksacks herumklettert, auch noch Geld bezahlt, so kennt ihre Verwunderung keine Grenzen, da jeder Bergbewohner überzeugt ist, dass jeder Mensch mit einem Rucksack viel Geld für seine Entbehrungen bekommt.
Mirov näherte sich dem eigentlichen Thema nur langsam, indem er zuerst bis in alle Einzelheiten nach der Gesundheit des Onkels, seiner Frau, der Kinder und Enkel fragte.
„Warum stehen Sie denn, kommen Sie, setzen Sie sich“, unterbrach ihn die Frau des Onkels. Ich folgte Mirov als dem Ortskundigen in allem. Er lehnte so lange ab, bis ein Drängen in ihrer Stimme zu vernehmen war. Erst danach ließen wir uns auf den Sitzdecken (Kürpatscha) nieder, die auf einer kleinen Erhöhung ausgebreitet waren. Die Tochter, eine Bergschönheit mit schwarz glänzenden Haaren, ebensolchen Augen und einem von der Sonne gebräuntem Gesicht stellte mit einem Lächeln, das ihre schneeweißen Zähne zeigte, allerlei zu Essen auf das Tischtuch (Dastorchon). Mit einemmal betrat ein gebückter, aber beweglicher grauer alter Mann mit einem Bund Möhren in der Hand und einer Kiepe Holz auf dem Rücken den Hof. Nachdem er der entgegeneilenden Tochter die Möhren gegeben und das Holz in der Küche gelassen hatte, kam er zu uns. Nachdem das Begrüßungsritual beendet war, fragte der Alte woher wir sein und wohin wir wollten.
Mirov legte ihm ausführlich unser Ziel dar. Der Alte hörte schweigend zu, veränderte sich aber gleich bei den ersten Worten. Das Lächeln verschwand von dem zerfurchten Gesicht. Interesse und Güte wechselten mit dem Ausdruck enttäuschter Erwartungen.
„Höre, mein Sohn“, begann er düster, „nichts Gutes führst du im Sinn. Weder du, noch dein Freund sind je dort gewesen. Der Scheich ist jetzt nicht da, und helfen kann euch keiner. Ich bitte dich, gehe nicht dorthin. Viele unvorsichtige Menschen sind schon zu Tode gekommen, ohne Ihn gesehen zu haben.“
Zu unser Verwunderung war der Alte selber nicht in der Höhle gewesen und wusste auch keinen von den Dorfbewohnern, der sich entschließen würde dort hinzugehen. Der Scheich ist ein heiliger Mensch, der in diesem Fall die Rolle eines ortskundigen Führers innehatte. Da es auf Erden überaus viele Sünder gibt und Pilger aus ganz Mittelasien zum Hodscha Ishok kommen, ist ein Scheich als Führer ohne Zweifel unentbehrlich. Gegenüber Großzügigen ist der Scheich besonders aufmerksam, während es meist die Geizigen sind, die ums Leben kommen...
Wir wollten auf jeden Fall bis zu der Höhle gelangen und freuten uns sogar darüber, dass der Scheich nicht da war. Da es schon zu dunkeln begann, beschlossen wir die Suche am nächsten Morgen zu beginnen. Abends gesellten sich die Jugend und einige Weißbärte aus der Nachbarschaft zu unserem Dastorchon. Man begann über den Hodscha Ishok zu sprechen. Niemand wusste, wann er in die Höhle gelangt war. War er selbst hinaufgestiegen oder hatte jemand den Körper eines Gefallenen in die Höhle gebracht? Einer der Teilnehmer an dem Gespräch, ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, äußerte die Vermutung, dass der Hodscha Ishok sich bereits seit der vorislamischen Zeit in der Höhle befinde. Die anderen nickten dazu schweigend mit den Köpfen. Dann erzählte ich von dem Bericht Professor Zografs über den Besuch des Grafen Bobrinskij in der Höhle und vom Aufstieg Professor Beckers zur Höhle im Sommer 1916. Vielleicht würde sich ja von den Weißbärte jemand daran erinnern, denn zu Anfang des Jahrhunderts waren sie doch Kinder? Die Antwort war ein gleichmäßiges Nicken der Bärte.
1894 hatte Professor Javorskij von der Universität Novosibirsk die Höhle besucht und eine genaue Beschreibung derselben gegeben, aus der Zograf in seinem Buch „Die Schädel aus der Höhle von Makschevat“ viele Passagen zitiert.
1895 besuchten Graf Bobrinskij und Hauptmann Borschtschegovskij die Höhle. Sie entnahmen der Höhle zur detaillierteren Untersuchung sechs Schädel. Mit der Untersuchung wurde Zograf beauftragt, der über sie in seinem Buch berichtet. Es stellte sich heraus, dass alle sechs Schädel von Geburt an deformiert waren.
Der Hodscha Ishok hat noch von anderen „Besuch bekommen“, aber weder über die einen, noch die anderen konnten die Alten irgend etwas sagen.
Das Gesagte möchte ich durch die Vermutungen A. L. Kuhns ergänzen, einem Teilnehmer der Expedition Fedschenkos im Jahre 1870. Hier also das, was A. P. Fedschenko darüber in dem Buch „Reise nach Turkestan“ schreibt:
„...Am 18. Juni machten wir uns vom See aus auf den Rückweg nach Sorved. Während dieser Reise bogen ich und einige andere in das Seitental, in dem das Dorf Makschevat liegt. Wir wurden von Erzählungen über eine große Höhle angezogen, in der sich angeblich der unverwesliche Körper eines Heiligen befindet. Nachdem wir hoch die Schlucht hinaufgestiegen waren, trafen wir A. L. Kuhn, der erzählte, dass der Aufstieg zur Höhle äußerst beschwerlich sei. Er musste zuerst über glatte und stark abschüssige Felsen kriechen und dann hatte man ihn am Gürtel eine enge Felsspalte hochgezogen... Die Grotte sei nicht groß und sei eher wie eine enge Felsspalte, deren Grund mit Erde bedeckt sei, die offensichtlich durch eine in der Decke befindliche Öffnung hereingefallen sei. Wahrscheinlich ist durch dieselbe auch der Mensch gefallen, dessen Körper zur Hälfte in der Erde stecke und der bis zum Gürtel nackt sei.“
Der letzte Umstand belustigte die Zuhörer. Einige Augenblicke saßen alle schweigend da und schauten von Zeit zu Zeit zu einem Langbart hinüber, der frei und unabhängig an der Kopfseite des Dastorchons saß. Es schien, als ob der Weißbart etwas Wichtiges zu sagen hatte. Endlich wurde die Stille vom Gastgeber durchbrochen, der sich ehrerbietig dem würdevollen Alten zuwandte und ihn bat, von dem Entstehen der Höhle zu erzählen und indem er das „Tüpfelchen auf das i“ setze, das Gespräch beenden möge. Der Alte, hochmütig lächelnd, schaute uns hart und streng an. Man musste uns mit weiser Hand aus dem Labyrinth der Irrungen heraus und auf den Pfad eines ergebenen und rechtschaffenen Lebens führen.
„Es trug sich in jenen Zeiten zu“, begann er in strenger Düsternis, „als es in dieser Gegend noch keine Berge gab und die Flüsse nicht so schnell flossen. Die endlosen Ebenen waren reich an Korn und auf den saftigen Weiden grasten fette Herden. In dieser so reichen Gegend lebten ungläubige Feueranbeter. Weder kannten noch fürchteten sie Allah. Eine Zeit hub an, in der unser Schöpfer die Ungläubigen nicht mehr dulden wollte. Er schickte seinen Sohn auf die Erde, um die Ungläubigen zu bekehren. Der Sohn Gottes kam auf einem Feuerross geritten und begann das unwissende Volk zu lehren. Aber das Volk hörte auf seine Anführer und nahm die heilige Wahrheit des Gottessohnes nicht an. Die Anführer befahlen ihn zu töten und in eine Grube zu werfen, damit seine unsinnigen Reden niemanden durcheinander bringen mögen. Innerhalb von Sekunden verfinsterte sich die Erde und begann zu erzittern. Schwarze Asche hüllte die Erde ein und heranbrausende Wasser ertränkten alles Leben. Die blühenden Ebenen versteinerten und krausten sich zu felsigen Bergen und der Sohn Gottes wurde auf den höchsten aller dieser Berge erhoben. Dort schenkte ihm Allah das ewige Leben!“
Nachdem er geendet hatte, riet der Alte belehrend nicht zur Höhle aufzusteigen. Seiner Meinung nach konnte nur ein wahrer Muslim in die Höhle vordringen. Sollte ein Ungläubiger den Eingang erreichen, so würde er im selben Augenblick in den Abgrund heruntergeschleudert.
Bei diesen Worten kam Leben in die Anwesenden. Die Weißbärte nickten nachdrücklich. Allen war augenfällig, dass die Aufgabe, die wir uns gestellt hatten, unsere Kräfte überstieg. Um unseren gastfreundlichen Wirt und die wohlmeinenden Gäste nicht zu verstimmen, versprachen wir, nicht zur Höhle zu gehen, sondern uns nur den oberen Teil der Schlucht anzusehen.
***
Satellitenbild : Makhshevat und Hodscha Ishok -Felsen
tFrüh am Morgen machten wir uns auf den Weg. Ungefähr eine Stunde bogen wir immer wieder an irgendwelchen Abzweigungen ab. Ein Pfad ging scharf nach links weg und führt fast wieder zurück und in der Ferne, auf dem Kamm eines Felsrückens stak eine weiße Stange mit Reisig.
Wir näherten uns der Stange. Drei Meter lang und bis über die halbe Höhe mit weißen Lappen umwickelt, stand sie einsam mit Felsbrocken zwischen den Felsen eingeklemmt auf der Anhöhe. Ich wurde von einer Welle aufwühlender Erwartung erfasst. Irgendwo in der Nähe war also die Höhle!
Mirov vermutete, dass die Anzeichen eines heiligen Ortes, das Häuschen für die Waschungen, ein Herd und ein Ruheplatz ein wenig höher liegen mussten und ging ohne lange zu überlegen weiter. Es vergingen ungefähr zehn Minuten, bis ich bemerkte, wie Mirov einen Hang entlang eilte. Mit einer Geste deutete er an, dass wir einen anderen Pfad nehmen mussten.
An einer Weggabelung angelangt, ging ich noch ungefähr zwei Kilometer weiter. Ein durchdringender Pfiff ertönte. „Um Himmels Willen jetzt keinem von den Dorfbewohnern begegnen...“ Hoch über mir erblickte ich Mirov. Er zeigte auf die nächstgelegene Senkung. Ich begann schnell aufzusteigen und kam bald an einen Wacholderbaum. Er war kaum zehn Meter hoch und breitete seine halbvertrockneten Äste weit aus, so dass er keinen dichten Schatten warf. In langen Fetzen hing grau gewordenes Moos von den Ästen. Es schien, als sei der mürrische Wacholder gleichgültig gegen alles und wie für einen Moment erstarrt, und doch dehnte sich dieser Augenblick endlos aus. Kein Lüftchen erfasste seine Äste und versuchte diese uralte Traurigkeit auseinander zu wehen. Weiße Bänder, von Pilgern aus Ausdruck ihrer Hoffnungen und Wünsche angebracht, hingen traurig und wie erstarrt an den unteren Ästen. Der Stamm des Wacholder war beschnitzt und mit den Inschriften derjenigen versehen, die ihre unbekannten Namen verewigt wissen wollten:
„Mo tschor nafar studentoni schahri Samarkand. Omadem baroi schinosschawi wa duchoni. Omin.“
(Tadsch.: Wir sind vier Studenten aus Samarkand. Wir sind gekommen, diesen Ort kennenzulernen und zu beten. Amen.)
In einer Höhe von anderthalb Metern war ein kleines Kästchen mit Fächern an den Wacholder genagelt. In ihm befand sich ein Döschen mit Salz, ein Päckchen grünen Tees, einige Stücke Zucker und Streichhölzer. Etwas darunter war ein gehobeltes Täfelchen mit einer warnenden Inschrift angenagelt:
„Mechmoni asisi muchtaram, agar kadam rantschon karded, as hamin tschoi ba tarafi kuch raftan ma’n meboschad. Omin.“
Tadsch.: Verehrte liebe Gäste, von hier an ist es streng verboten, auf den heiligen Berg zu steigen. Amen.)
Eine kleine Erhöhung, Sufa genannt, stützte sich an den mächtigen Stamm. Auf ihr verrichteten die Pilger ihre Gebete und nahmen ein Mahl zu sich. Unweit der Sufa, am Hang über dem verkohlten Wipfel des Wacholder war an einem Heckenrosenstrauch eine Herdstelle aus großen Steinen angelegt. Daneben stand ein gusseiserner Teekessel. Am Hang über der Sufa war ein Häuschen, die Tschilchona, errichtet. Sie war für die kranken Pilger bestimmt, die hierher kommen, um von den sie quälenden Leiden geheilt zu werden. Offensichtlich kamen aber nicht viele Kranke bis hierher, denn das Häuschen war halbverfallen und für den Scheich war es daher nicht vorteilhaft, sie jedes Frühjahr erneut in Stand zu setzen.
In einigen Metern Entfernung von der Sufa floss ein Bächlein vorbei und durch das Häuschen hindurch. Hier vollzogen die Pilger die Waschungen vor dem Gebet und dem Aufstieg zur Höhle. Der Eingang zu dem Häuschen war sehr niedrig, aber dennoch gab es eine Tür, die von innen verriegelt werden konnte. Von dem Häuschen führte ein Pfad steil über die Felsen die Schlucht empor. Es schien, als ob er zu der Höhle führte. Alleine weiterzugehen, hatte keinen Sinn und so kehrte ich um. Als ich mich dem Häuschen näherte, kam Mirov heraus. Wir setzten unseren Weg fort.
Wir durchquerten ein felsiges Wegstück, das von einem leicht abfallenden abgelöst wurde, das sich zwischen Heckenrosensträuchern hinschlängelte. Nach ungefähr zwanzig Minuten kamen wir an eine Stelle, die uns die Gefährlichkeit unsers Unterfangens in aller Deutlichkeit vor Augen führte. Der Pfad wurde von einer glatten, schrägstehenden Platte unterbrochen. Ihr oberer Teil stützte sich an eine senkrechte Wand, während der untere Teil mit seiner messerscharfen Kante über dem Abgrund hing. Ich wollte Mirov vorschlagen, umzukehren, aber da war er schon bis zur Mitte der Platte vorgedrungen. So folgte ich ihm langsam mit zitternden Knien nach und schaute, um die Angst zu verdrängen, nur vor mich hin. In der Mitte der Platte war ich schon klatschnass geschwitzt und hielt an. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Weiterzugehen war schrecklich, aber umzukehren war genauso gefährlich!
„Mirov!“, schrie ich verwirrt. Aber Mirov drehte sich nicht um. Er hatte die Platte hinter sich und stand auf einem schmalen Vorsprung. Ich erschrak: „Sollte das wirklich das Ende sein?“ Es war kein Halt zu finden und meine Füße begannen Richtung Abgrund zu rutschen. Ich hätte die Schuhe ausziehen sollen und mich durch das Gewicht meines Körpers halten müssen! Indem ich mich auf meine Handflächen stützte, begann ich vorsichtig meine Beine zu mir heran zu ziehen. In dem Moment kam mir Mirov zu Hilfe indem er einige Schritte tat und das Blatt eines kleinen Beils in eine kaum sichtbare Felsritze trieb. Auf dieses gestützt, kam ich wieder auf die Füße. „Du musst schnell gehen“, sagte Mirov. Es bedurfte keiner Worte zu sagen, wie dankbar ich dem Schicksal und allen Heiligen war, als ich die Platte hinter mir hatte. Mein Fehler war gewesen, dass ich sie zu langsam überquert hatte. Ich hätte sie schneller queren müssen, am besten sogar im Laufschritt. Mirov holte das Beil und schritt weiter. Ich folgte ihm auf dem schmalen Vorsprung. An einer Wand stand über dem Abgrund eine drei Meter lange Stange aus dem verbogenen Stamm eines Wacholder mit einem Durchmesser am Fuß von zwölf bis fünfzehn Zentimetern. In der Mitte der Stange waren metallene Glöckchen angebunden und etwas höher zwei weiße, von Wind und Wetter zerfetzte Bänder. Die Glöckchen, vom Wind aneinander geschlagen, gaben einen Klang von sich, der einen in Unruhe versetzte. Unschlüssig blieben wir stehen. Bis zum Eingang der Höhle waren es nur noch sechs, sieben Meter und von hier aus konnte man nicht mehr gehen, sondern musste steil nach oben klettern. Der Vorsprung unter unseren Füssen war so schmal, das wir nicht aneinander vorbei konnten. Wir hockten uns nieder und beschlossen uns einen Plan für den Aufstieg zurecht zu legen. Unsere Füße hingen über dem Abgrund und tief unter uns wand sich der dünne Faden des Flusses, dessen Ufer übersät waren mit in der Sonne bleichenden Knochenresten.
In der Schlucht war es totenstill. Die Stille wurde von nichts durchbrochen, weder vom traurigen Gurren einer Taube oder dem Ruf eines Rebhuhns, noch von der tönenden, leicht pfeifenden Stimme eines Hirten. Es war furchteinflößend. Wir saßen schweigsam da. Ich bemühte mich, mich abzulenken und langsam gelang es mir, das Gefühl der Angst zu unterdrücken. Ich wollte nicht als erster aufsteigen und gab dieses Vorrecht telepathisch an Mirov weiter. Es schien, als hätte er meinen Gedanken verstanden, denn plötzlich fuhr er auf und begann die Schuhe auszuziehen. Ich folgte seinem Beispiel und bemühte mich dabei, nicht schneller zu sein als er. Mirov sagte, dass er es probieren wolle und begann sich auf der Suche nach einem geeigneten Vorsprung oder einer Spalte an der Wand entlang zu drücken. Auch ich stand auf und bemühte mich, so weit das möglich war, ihm zu helfen. Durch unsere gemeinsamen Anstrengungen und mit Gottes Hilfe gelang es Mirov anderthalb Meter raufzuklettern. Es weiter zu riskieren und dabei nur auf Gott zu vertrauen, entschloss er sich nicht. Nachdem er wieder herunter gekommen war, begann er das erste Mal an der Möglichkeit zu zweifeln, unsere Absicht in die Tat umzusetzen. Mir schien, dass Mirov noch höher klettern könne, denn ich sah deutlich, wo er mit den Fingern und Zehen Halt finden konnte. Und wenn nicht die Gefahr eines Absturzes bestanden hätte, hätte er auf diese Weise bis zur Höhle klettern können. Dass wir keine Sicherung dabei hatten, machte uns Angst. Da Mirov sich auf den Vorsprung hockte und kein Verlangen zeigte, noch einmal das Schicksal in Versuchung zu führen, war ich an der Reihe. Aber leider kam ich auch nicht höher als Mirov, da man, um den nächsten Schritt zu tun, den Körper vertikal und so fest wie möglich an den Fels gepresst halten musste. Aus Furcht, dass der kleine Vorsprung, an dem man sich dabei festklammern musste, abbrechen könnte, kletterte ich langsam wieder zurück.
***
Wir waren verzweifelt. Mirov sagte so was wie dass es beschämend wäre unseren Freunden und uns selbst gegenüber, wenn es uns nicht gelingen sollte, den Hodscha Ishok zu sehen. So viele Anstrengungen hatte es bereits gekostet, die Höhle zu finden, dass es ärgerlich wäre, wenn wir nicht auch mit dieser letzten Hürde fertig würden. Nachdem er das gesagt hatte, beschloß er noch einmal seine Kräfte und Nerven anzuspannen. Aber wieder ohne Erfolg.
Wir versuchten die Lage zu erörtern. Es durfte auf keinen Fall zu einem Absturz kommen. Ärgerlich war, dass wir keine Haken mitgenommen hatten. Jetzt mussten wir in düsterer Stimmung durch die Sonnenglut wieder zum See hinunterklettern. Aber nicht diese Wendung der Dinge war auf die Tafeln Gottes geschrieben! Die mächtige Kraft des Hodscha Ishok rief uns zu sich! Er lockte wie eine Oase in der Wüste, wie ein blinkender Stern in der grenzenlosen Kälte des Weltraums! Es war unabwendbar wie das Schicksal.
„Ich versuche es noch einmal“, sagte ich fest, nachdem ich die Angst überwunden hatte. Ich begann den Aufstieg ein Stück weiter rechts als beim ersten Mal, an der geneigten Seite der Spalte, die sich nach oben hin verjüngte. Wenn ich dabei von einem fallenden Stein getroffen würde, oder der Felsvorsprung abbrechen würde, würde es wohl keine Rettung geben. Aber daran dachte ich nicht in diesen Minuten. Es gab nur einen Wunsch - Ihn zu sehen.
Ich kletterte höher und höher. Mirov rief mir zu, wo ich die Füße hinsetzen musste, oder besser, wo ich mich mit den Zehen festklammern musste. Im oberen Teil der Spalte kroch ich aus ihr heraus. Nur noch zwei Meter gefährlicher Wegstrecke waren zu überwinden, und unsere Pilgerfahrt (Hadsch) konnte als erfolgreich angesehen werden. Daran, dass der Abstieg nicht minder gefährlich war, dachte jetzt keiner von uns. Indem ich mich an einen Vorsprung über meinem Kopf klammerte, zog ich mich hoch und erklomm eine kleine Plattform. Vor mir öffnete sich die Höhle mit ihrem gähnenden schwarzen Einstieg.
Direkt am Eingang grünten einige Grasbüschel, deren Samen der Wind hierher getragen hatte. Langsam bewegte ich mich über den kalten steinernen Boden vorwärts. Nie war er Sonne, Wind oder Regen ausgesetzt gewesen und so schien es, als sei er eine riesige Eismasse, so sehr war er von den nackten Füssen der Pilger abgeschliffen.
„Nun wie sieht’s aus?“
„Alles in Ordnung.“ - Meine Stimme, die in die Höhle schallte und sich an den toten Wänden brach, ließ mich zusammenfahren. Angespannt blickte ich der bevorstehenden Begegnung entgegen. Bilder aus den Erzählungen von Augenzeugen und Phantastikern tauchten vor dem inneren Auge auf und es schien, als wollte mir der Bewohner der Höhle selbst entgegen kommen. In diesem zerklüfteten Raum tropfte die Zeit unwiederbringlich dahin und diese Tropfen fanden ihren Weg in die Freiheit und zur Sonne und damit auch in den Tod... Plötzlich erstarrte ich! Im Halbdunkel tauchte der Hodscha Ishok vor mir auf und starrte mich aus dunklen Augenhöhlen und mit zu einem Grinsen verzogenen Mund an, das seine weißen Zähne zeigte, als ob er bereits im Voraus die Rache für das Eindringen in sein Reich auskosten würde!
Um mich versank die äußere Welt und ich betrachtete Ihn ohne näher zu treten. Auf Grund der verschiedensten Erzählungen, in denen sich Märchenhaftes und Phantasie kunstvoll mit Tatsachen mengte, hatte ich mir den Heiligen anders vorgestellt. Jetzt begann sein phantastisches Bild reale Züge anzunehmen.
Das Skelett des Heiligen war nicht sehr groß, wahrscheinlich dass eines vierzehn- oder fünfzehnjährigen Jünglings. Der Heilige sitzt im Türkensitz, das heißt mit verschränkten Beinen mit dem Gesicht nach Südwesten auf einer kleinen, vom Vogeldreck gereinigten Erhöhung. Der Kopf ist unnatürlich nach rechts oben verdreht.
Mirovs Ruf holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich ging zum Ausgang zurück. Mit einem dünnen Seil zog ich den Fotoapparat und das Beil herauf. Mirov band sich das andere Ende zur Sicherung um die Hüften. Nachdem ich das Seil über den Vorsprung über mir geworfen hatte, begann ich ihn vorsichtig heraufzuziehen. Nach zwei Minuten befand sich Mirov direkt vor mir. Ich reichte ihm die Hand und er tat, nachdem er sich an dem Vorsprung festgehalten und sich auf meine Hand gestützt hatte, den letzten Schritt und stand neben mir, die ganze Zeit aufgeregt etwas vor sich hin flüsternd.
Wir drangen tiefer in die Höhle vor. Nach kurzer Zeit fanden wir uns in der Mitte eines kuppelförmigen Raumes mit einer Öffnung in der Decke wieder. Zur Rechten und zur Linken war der Weg durch Felswände versperrt. Der Boden war mit einer dicken Schicht Taubenmists bedeckt, der sich an einigen Stellen zu meterhohen Stalagmiten auftürmte. Zur Rechten saß auf einer kleinen Erhöhung der Schuldige unseres riskanten Aufstiegs.
Ohne es zu berühren, betrachteten wir das ganze Skelett. Die Kopfhaut des Heiligen war vertrocknet und zog sich straff über den Schädel. Einige Büschel rötlichen Haars waren erhalten. Die Ohren standen wie vertrocknete Finger ab. Die Haut des Gesichts, des Halses, des Rückens und der Brust sahen aus wie versteinert. Der Heilige grinste lustig mit gut erhaltenen Zähnen, als ob er sagen wollte: „Da seht ihr mal, wie ich euch hinters Licht geführt habe!“ Wir untersuchten die Höhle. Auf einem Brettchen in der linken Felswand fand Mirov ein Fläschchen mit Öl und einem abgebrannten Dochtrest, der in diesem baumelte. Daneben lagen Streichhölzer. Mirov zündete den Docht an. Das Halbdunkel vor uns wurde sogleich schwärzer. Der Boden der Höhle ging steil nach unten weg. Die zitternde Flamme gab nur ein schlechtes Licht und schuf Unruhe da sie in jedem Moment zu verlöschen drohte. Wir gingen einige Meter in dem kalten Taubenmist und blieben unschlüssig stehen. Nur mit Mühe nahmen wir wahr, dass die Höhle an dieser Stelle ungefähr zweimal so breit wie am Eingang war.
Es hatte keinen Sinn weiterzugehen und so kehrten wir zu dem Heiligen zurück und schritten mit Wonne über den warmen Boden. Wir stellten das Licht an seinen Platz zurück. Mirov brach einen Stalaktiten von der Wölbung ab und nahm ihn als Beweisstück mit. Ich fotographierte den Hodscha Ishok.
Nachdem wir ein letztes Mal Wölbung und Felswände betrachtet und uns noch einmal den legendären und geheimnisvollen Vorfahren eingeprägt hatten, begaben wir uns vorsichtig über den abschüssigen Boden zum Ausgang zurück.
„Er ist der, der Euch
seine Zeichen zeigt und
Euch vom Himmel ernährt,
aber sich nur dessen erinnert,
der sich ihm zuwendet.“
Koran („Der Gläubige“), Sure 40
Mirov begann als erster abzusteigen. Ich sicherte ihn, indem ich nach und nach Schnur gab. Alles schien vorbei zu sein. Einen Augenblick hielt ich inne im Vorgefühl der angenehmen siegreichen Rückkehr.
Plötzlich spannte sich die Schnur und glitt mir wie eine Schlange aus den Händen. Es riss mich heftig zu der Felsnase. Mirovs Schrei vermischte sich mit dem Poltern stürzender Felsbrocken. Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren wie das Stampfen von Hufen. Die Züge des ehrwürdigen Alten tauchten vor mir auf, der allen Ungläubigen den Tod vorausgesagt hatte! Nach einigen Sekunden hörte ich Mirovs lakonischen Kommentar. Ungeachtet dessen das seine Stimme zittrig war, war sie doch Balsam für meine Nerven. Im Sturz hatte er sich an dem Vorsprung und dem Fuß der Stange festgeklammert. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, nahm er Fotoapparat und Beil in Empfang. Dann band ich mir das Seil um. Das andere Ende band Mirov an die Wurzel des alten Wacholder, aus dem die Stange bestand. Vorsichtig stieg ich herunter. Mein Körper befand sich genau in derselben Lage, wie beim Aufstieg. Ich musste dieselben Bewegungen wiederholen, nur in der umgekehrten Reihenfolge. Mirov gab genau an, wo ich die Füße hinsetzen musste und ließ gleichzeitig die Schnur ab und verkürzte so die Pendelbewegung des Seils um ein weiteres Unglück zu vermeiden. Kurz darauf stand ich neben Mirov. Jetzt lag alles hinter uns und die Platte, über die wir zurückkehren mussten, kam uns dagegen wie ein Kinderspiel vor. Wir setzten uns auf den kalten Vorsprung um auszuruhen und das Glück dieser Minuten zu genießen.
Die Sonne stand bereits hoch über uns und die Augen wurden vom gleißenden Glanz des gegenüberliegenden glatten Hangs geblendet. Der Himmel war tiefblau und ohne eine Wolke. In der Ferne, direkt vor uns, glänzten die Gletscher des Bolschaja Ganza, des Pik Krasnych Zor’ (Gipfel der Abendröten) und des Sneznij Bars (Schneeleopard), die den Iskanderkul von Norden umgeben. Das Silber der Gletscher speiste großzügig den weissen Spinnrocken des Sirjoma. Das Massiv des Bolschaja Ganza überragte die benachbarten Gipfel um einiges. Gut zu sehen waren auch die Pässe Surch, Omskij und Dmija mit ihren schwärzlichen steilen Geröllhängen. Die durchsichtige kühle Luft belebte und beruhigte uns...
Mirov beschloss herauszufinden, ob der Hodscha Ishok tatsächlich über die übernatürlichen Kräfte verfügte, die ihm zugeschrieben wurden. Er meinte, dass wenn uns genau um sieben Uhr ein vorbeifahrendes Auto mitnehmen würde, dies dann der schlagende Beweis dafür seien würde, dass unser Vorfahre tatsächlich über diese Gabe verfüge.
Wir kamen etwas vor Sieben an der befahrenen Trasse an und gingen zum Fluss hinunter. Mirov zog seine Schuhe nicht aus und riet auch mir davon ab. In der Erwartung des Wunders machten wir es uns auf den Steinen bequem und betrachteten die umliegende Landschaft. Von Zeit zu Zeit ging mein Blick zu der Trasse hinüber, aber sie war weiterhin leer. Ich schaute auf die Uhr. Es war genau sieben Uhr. Ich lachte über unsere verrückten Erwartungen und schlug vor zu Fuß zu gehen. In dem Moment als ich mich erhob, sah ich in einer Entfernung von zweihundert Metern eine Staubwolke, in der sich mit großer Geschwindigkeit ein abendblauer neuer ZIL näherte. Ich erstarrte und im nächsten Augenblick hörte Mirov meinen Freudenschrei. Nachdem er auf die Trasse gerannt war, begann er vor Freude zu tanzen.
Dieses Ereignis, das einige Jahrhunderte zuvor zeichenhafte Bedeutung erhalten hätte, belustigte uns sehr.
Bremsend verschwand das Auto in einer Wolke aufstiebenden duftenden Staubs. Nachdem wir unsere Rucksäcke auf die Ladefläche geworfen hatten, sprangen wir zu dem Fahrer in die Fahrerkabine.
So wurde der Fahrer der erste, der diese Geschichte, die Mirov ihm erzählt, zu hören bekam. Er lächelte zur Antwort, trat aufs Gas und das gefügige Auto trug uns ermüdete und glückliche Wanderer über die Serpentinen der Bergstrasse hinauf zu den Ufern des smaragdgrünen Iskanderkul.